Die Welt von Innen (Auszug) (2022)
Wir lernen uns kennen. Die Luft zwischen unseren Körpern ist süß und zerbrechlich. Mit jedem Schritt, den wir uns nähern, bricht ein kleines Stück Sauerstoff und fällt zu Boden. Es schmeckt nach Zuckerkruste. Sanft suchen unsere Zungen nach Süßem im Gaumen des anderen.
Du zeigst mir die braun-roten Blätter und frischen Wangen der Spazierenden, die uns lächelnd grüßen.
Ich gebe nur wenig preis. Ängstlich verstecke ich mich in deinen Armen und der Dunkelheit der Jahreszeit, die uns ganz nah zusammenstellt.
Später sind wir ein Gebilde aus Gliedmaßen, das sich nicht trennen möchte. Wären wir zwei Hunde, sagt du, sie würden uns für verrückt halten. Ich lache. Du bekommst lange Ohren, eine Schnauze und Mundgeruch.
Wir verbrennen unachtsam kleine Pulverbrösel Kaffee. Ihr Duft mischt sich mit dem, der alten Mauern und abgegriffenen Türschnallen.
Die Angst vorm Unwohlsein steht in den dunklen, staubigen Ecken. Sie wird zurückgedrängt, aber nicht vergessen.
Wir bemerken über die Jahre wie die Scherben aus Zucker hart und aus Rübenmelasse Glas wird. Unachtsames Barfußgehen und kindliches Naschen vom Boden der Welt wird mit jedem Tag gefährlicher. Wir können aber immer noch lachen und tragen jetzt Schuhe.
In der Zwischenzeit sind die Köpfe der Welt zu weit weg vom Boden. Ihre Nervenenden spüren die Scherben durch die harten Vibram-Sohlen kaum. Sie denken über eine andere Luft nach, eine die sich aufbläht und Inflation nennt. Lebensmittelkonzerne kosten von der blähenden Masse, die nur wenigen schmeckt, während Münder offenstehen. Du blätterst um.
Als wir zusammengezogen sind, war die Welt noch heil, sagst du zwischen den Zeilen der Liebesanzeigen, die du mir laut vorliest, damit ich einschlafe. Der attraktive Glückskäfer, 37, aus Lübeck, bleibt in meinen Ohren hängen und du bekommst sechs haarige Beine, ein noch breiteres Lächeln und ein rundes Käfergesicht mit langen Fühlern, die mich kitzeln, wenn du umblätterst.
Er steht mit dem Rücken zur Wand, sagst du. Ich sehe ihn vor mir, wie er sitzt. Ein kleiner hautfarbener Punkt am unendlichen Ende eines runden Tisches. Fleischige Finger, spannend glatte Haut. Reservisten werden eingezogen, sagt die Radiostimme. Kein Wort von Krieg, sagt sie auch. Mütter wollen ihre Söhne, Frauen ihre Männer nicht verlieren, singt Udo Lindenberg.
Wir fahren durch einen frühen Herbst. Wie viel sind wir bereit zu geben? fragt die Radiostimme in den Äther.
Ich habe Bananen und Nüsse eingepackt, deren dünne Häute lange unbemerkt zwischen unseren Zähnen kleben, während niemand etwas sagt.
Auf dem Berg ist es genauso Ende September wie im Tal. Es schneit. Eine Übertreibung. Meine Haut und alles darunter ist nicht an Kälte gewöhnt. Der Wind frisst sich durch den Reißverschluss meiner Jacke und dreht kalte Kreise in meinem Bauchnabel. Ich gehe voran, du hinterher. Ich zeige auf die spitzkegligen Kahlköpfe, die sich munter um die vielen Kuhfladen scharren und lache. Du fragst, ob man sie im Ofen trocknet. Ich binde mein dünnes Tuch um Nase und Wangen und gehe weiter. Die Steine am Wechselgebirge sind mit neongelbem Moos überzogen.
Als wir den höchsten Steinpunkt erreicht haben, kehre ich um. Mir ist kalt. Du bleibst stehen. Ich denke, du fotografierst und gehe weiter. Ich beobachte zwei Gestalten in der Ferne, die bei jedem Kuhfladen halt machen, sich bücken und die Pilze in ihren Taschen verschwinden lassen. Ich versuche den vielen braunen Fladen auszuweichen, die nach Dünnschiss aussehen. Irgendwo da draußen läuft ein Stier. Ich erinnere mich an das Schild. Stier Benno, Achtung! Darunter ein Bild von Benno. Es zeigt dunklen Stieraugen, keine Ochsenaugen.
Was tun, wenn Benno kommt?
Bei Bären soll man tanzen, habe ich gehört. Wer wegrennt wird verfolgt. Wer tanzt, verwirrt. Geistesgestörte Beute ist nichts für Bären, denke ich, während ich von weitem die Männer auf ihrer Fladentour beobachte und die Lust verspüre zu tanzen. Da höre ich deinen Schrei. Immer wieder schreist du zitternd meinen Namen. Ich kann dich nirgends sehen und beginne zu laufen. Vergessen sind die Fladen, der Wind, Benno. Ich laufe zum neongelben Abhang. Als ich am steilen Hügelrand stehe, mit einem Stechen in der Lunge und grellem Moos im Auge und dich als reglosen Fleck im Abhang suche, bewegt sich deine Hand im Augenwinkel. Du stehst ein Stück weiter unten, unter dem Steinhügel, auf einem kleinen uneinsichtigen Weg. Hast du schon von den Kahlköpfen gegessen? fragst du und lachst. Ich beginne vor Wut zu schreien und möchte, dass die Angst durch meinen Mund verschwindet, die deine Handbewegung hätte wegwischen sollen. Gefrorene Luftkugeln wirbeln in meiner Lunge. Du sagst nichts, wissend, dass ich darauf warte, dass du sprichst. Zitternd gehe ich ein paar Schritte und atme tief aus, tief ein.
Als wir am Auto ankommen, fragst du nach mehr Nüssen. Walnüsse, keine Haselnüsse, Cashews, keine Paranüsse. Abwesend sortiere ich deine Favoriten, während du nach einem Radiosender mit Kriegsberichterstattung suchst.