Untier (2023)
Ich atme im Gleichstrom und überkreuze die Beine auf lackiertem Parkett. Die Dinge haben ihren Platz gefunden und ich glaube, ich meinen. Ich kenne die Wege. Ich verlaufe mich, nur wenn ich will. Ich kaufe Joghurt, ich kaufe Käse, ich kaufe gesalzene Butter und Kapern. Ich kaufe jede Woche dasselbe. Ich will wissen, was mich erwartet.
Ich lade Gäste. Sie setzen sich um den rechteckigen Tisch auf quadratische Stühle und biegen ihre Arme zu Ellenbogen. Sie sitzen gerade. Sie sprechen gerade. Ich schnippe jedes Mal, kurz bevor sie lachen.
Wir warten gemeinsam, dass die Zeit vergeht. Wir scharren heimlich mit den Füßen, und knirschen heimlich mit den Zähnen. Wir zerren an unserer Nagelhaut bis das Blut kommt.
Wir tragen unsere Pullover weit und unser Schuhwerk weich. Unser Schmuck ist vergoldet und unseren kalten Wangen malen wir ein Glühen auf.
Schimpansen könnten uns nicht unterscheiden.
Irgendwann werden die Teller leerer und die Gäste müder. Sie klopfen auf ihre Bäuche und lächeln. Sie verlassen die Gleichung und gehen zu ihren Menschen, denen sie von der Länge des Tischtuchs, von den Kratzern des Silberbestecks, von der Anzahl der Flusen unter dem Chaiselongue erzählen. Sie wissen, die Unterschiede liegen im Grad der Gleichheit. Gleicher ist ihre Disziplin. Es kümmert niemanden, ob es sie gibt.
In die gefundene Gleichung, in die ich Menschen bitte, versuche ich Unterschiede in der Haarspalterei zu finden. Dort hinein schleicht sich ein Ungeladener. Ein Eindringling. Ein Untier.
Es lacht nicht und klopft sich nicht auf seinen gepanzerten Bauch. Seine Welt kennt keinen Vergleich. Es erfreut sich nicht an Flusen, es hat keine Nagelhaut und auch keine Ellbogen.
Es isst nicht von Besteck. Es spricht nicht. Es möchte nicht gesehen werden. Es weiß, seine Anwesenheit ist nicht erwünscht und doch hinterlässt es kleine Nachrichten. Liebesbekundungen. Dankbarkeit. Ausscheidungen.
Es macht sich lustig. Es bringt Salmonellen, Viren, Bakterien. Es bringt Typhus!
Ich spüre meine Körpertemperatur erhöht sich. Meine Gelenke beginnen zu schmerzen. Ich lege mich prophylaktisch ins Bett. Ich atme tief ein und denke, ich sollte flach atmen.
Wie schnell bin ich dahin?
Ich liebe Tiere, aber das ist ein Untier. Es erfreut nicht, es stößt ab. Ich möchte es nicht beschützen, nicht in ein Glas drehen und sanft in die Freiheit nach draußen entlassen. Ich möchte es nicht sehen, nicht hören, schon gar nicht spüren. Ich möchte es nicht töten. Meine Abneigung sitzt so tief, dass der Tod mir nicht ausreicht.
Der Volksmund sagt Russe, er sagt Preuße, er sagt Franzose zum Untier. Er zieht Vergleiche mit seinen Feinden. Er sagt nicht mein Liebling, nicht Coucou oder Choupette. Nichts am Untier ist weiß, nichts ist flauschig, nichts liebevoll. Es trägt einen Panzer, es trägt ein Halsschild und Antennen. Es ist gewappnet, es kennt seinen Feind, der meist barfuß, manchmal nackt, durch sein Territorium läuft. Hat es ein leichtes Spiel?
Das Untier dehnt sich aus in den Haarrissen meiner Ordnung und nistet sich ein. Es trägt seine Eier unter seinem Panzer, bevor es sie ablegt. Es versprüht Pheromone. Betörender Duft in den Löchern seines Schädels, Gestank in den Löchern unseres.
Anfangs bete ich, es möge allein sein. Ohne Kolonie. Es möge sich verirrt haben, falsch abgebogen sein. Ich bete es möge umkehren, sich umleiten, die Freiheit woanders suchen. Ich bete, ungläubig und ohne Effekt. Das Untier zieht mit jedem Amen seine Kreise größer.
Unbemerkt räumt es sich erst Ecken, erst Nischen, erst die Dunkelheit und später ganze Räume ein. Es frisst sich durch Plastik. Es läuft über Käse, es riecht die Butter, es schmeckt das Brot. Es suhlt sich in meiner Unachtsamkeit in der sich Brösel und Essensreste verstecken. Es vermehrt sich in meiner Ordnung.
Wenn alles still ist, höre ich sechs Beine, zwölf Beine, achtzehn Beine über die Fliesen des Küchenbodens klackern. Ich bin mir sicher, des Untiers Gleichschritt wird die Ordnung zum Einsturz bringen.
Ich versuche den Mund im Schlaf zu schließen. Es sieht bestimmt meine Mundhöhle an. Es findet den Flachs zwischen den Zähnen und den Belag, den es mir von der Zunge frisst. Es kitzelt meinen Gaumen mit seinen Fühlern und verliert dabei ein Ei, das unter seinem Panzer herausbricht, mir auf die Zunge ploppt und in den Rachen rollt. Es schlüpft in meiner Kehle, es frisst sich durch meine Säfte, es wohnt in meinem Darm.
Die Panik attackiert mich. Ich beginne das Untier überall zu sehen. Eine Mücke, eine Ameise, eine falsch abgebogene Biene. Im Zweifelsfall schlage ich um mich. Im Zweifelsfall erschlage ich das Tier. Ich erwische die Unschuldigen, die Nützlichen. Ich weiß, es gibt zwei Lager, Nützlinge und Schädlinge und nichts dazwischen, doch ich töte alles.
Das Untier ist vielzählig. Es hat hundert braune Köpfe. Sechshundert Beine. Zweihundert Antennen. Ich schicke feindliche Botschaften. Ich verteile Essig. Ich streue Pfeffer. Ich häufe Backpulver mit Zucker. Das Pulver sprengt den kleinen, mächtigen Chitin Panzer. Es dehnt sich aus und das Untier erledigt sich von selbst. Ich habe Hoffnung. Ich bete.
Ich bete ungläubig und ohne Effekt.
Ich mache das Untiers Tag zu meinem. Ich wache über mein schwindendes Reich. Stundenlang ziehe ich durch die Wohnung. Ich versuche so nachtaktiv wie das Untier zu sein und doch findet es immer eine spätere Nacht als meine.
Es tut so, als wäre es nicht da. Ich tue so, als wäre es immer da.
Ich überprüfe jedes Kribbeln auf der Haut und kratze mich so schnell und tief, dass meine Oberfläche Schorf bildet.
Müde ziehe ich spätnachts meine Schlafmaske über den Mund, müde verstopfe ich meine Ohren, müde winde ich mich auf der Matratze, unter der das Untier lauert und triumphal ein Festmahl mit meinen Hautschuppen feiert.
Meine Öffnungen geschlossen, halte ich meine Gedanken gefangen. Sie kreisen in meinem Kopf. In seiner Mitte sitzt das Untier. Liege ich im Bett, überlasse ich ihm das Feld, denke ich und werde unruhig.
Ich esse nur noch auswärts. Das Untier isst nur noch zu Hause. Ich werde zum Gast, während der Gast zum Einheimischen wird. Es verscheucht mich mit seinem Gestank, es ekelt mich aus der Tür und verschmiert seinen Kot an den Wänden seiner neuen Galerie.
Das Untier liebt Reste, lese ich. Reste aus dem Mülleimer, Reste aus den Rillen des Bodens, Reste aus vergessenen Ecken. Es bedient sich am Überschuss, es frisst die Brösel, es schneidet den Flachs, es nagt an verkohlten Krusten. Bald nagt es an mir, denke ich. Mit jedem Tag schält es mich weiter.
Während das Untier an Köpfen gewinnt, an Stärke zunimmt, werde ich schwach, werde ich müde, vergesse zu lachen.
Während das Untier hoch lebt, schmerzt mein Magen, mein Kopf. Meine Symptome deuten auf Typhus, Tuberkulose, Hepatitis, Magen-Darm-Grippe, Pilzinfektionen, Salmonellenvergiftung, Wurmerkrankungen und, ja, auch auf Schwindsucht hin.
Während das Untier einen Stiernacken, ein Waschbrett, eine Cornetto-Figur bekommt, wird mein Körper blass, wird mein Körper blau, schwinde ich dahin. Liege ich auf dem Rücken, werden meine Hüftknochen zu gefährlichen Spitzen. Drehe ich mich zu schnell, falle ich zu Boden. Steige ich Treppen, dann nur solche mit Geländer.
Ein Büschel grauer Haare, wächst aus meiner linken Schläfe, so robust, dass meine Nagelschere abstumpft.
Die Wochen des fehlenden Schlafs machen mich schwach. Meine Gedanken schmerzen in meinen Augenhöhlen. Mein Blick wird starr. Das Untier und ich, wir wissen, wenige schlaflose Nächte noch und es hat mich eingenommen. Es hat mich besiegt. Es hat mich zu seinem Rest gemacht.
Das Untier verhöhnt meine Gebete. Das Klackern in meinen Ohren, das Kribbeln auf meiner Haut machen es allgegenwärtig. Ich bin überzeugt, es spielt Gott.
Es lächelt ohne Mundwinkel. Es tanzt ohne Hüften. Es feiert ohne Musik. Es hat Flügel, die nicht fliegen. Spread your wings and die, denke ich und bäume mich mit letzter Kraft auf. Mein Netz aus Geduldsfäden ist gerissen. Ich spüre, ich bin im freien Fall.
Töte ich das Untier, bin ich keine Mörderin. Ob Mord oder nicht, bestimmt das Subjekt, nicht sein Überleben.
Was würde Jeff tun?
Was würde Mark tun?
Was würde Elon tun?
Was würde das Untier tun?
Ich kaufe einen Nebelautomaten im Baumarkt. Er ist violett und sieht aus wie ein Spieleimer für Kinder. 72 Gramm des Nervengifts Cyphenothrin werden dem Untier das Leben aus dem Panzer saugen.
Meine Hände zittern. In meinem Kopf steigt der Nebel schon auf.
Ich öffne die Lasche des tödlichen Spieleimers. Das Cyphenothrin ist ein kleiner grauer Block. Es muss mit Wasser in Kontakt treten, um seine benebelnde Wirkung zu entfalten. Ich knie am Boden der Küche. Das Epizentrum des Verstecks.
Cyphenothrin ist ein Kontaktgift. Es dringt in die Nervenzellen, wodurch es zu unkontrollierten Nervenimpulsen kommt.
Nie war meine Macht größer, mein altes Leben so nah. Ich schütte Wasser in den Eimer. Das Cyphenothrin reagiert.
Es führt zu Erregungszuständen mit Krämpfen, dann zu Koordinationsstörungen, dann zur Lähmung. Zum sogenannten Knock-down-Effekt.
Ich gewinne meine Mordlust zurück. Sie färbt meine Gedanken. Sie nimmt das Gewicht von meinen Schultern. Sie feiert ein Fest in meinen Gliedern.
Angreifer zeigen ihre Zähne, heißt es, doch ich weiß jetzt, dass sie lächeln.
Der Nebel steigt auf. Der Cyphenothrin quillt über. Ich stelle sicher, dass ich als einzige aus der Wohnung laufe. Ich rieche meinen Schweiß. Ich spüre meine Gelenke. Ich bin Mensch.
Das Insekt ist wenige Minuten bewegungsunfähig. Der Tod tritt erst nach einiger Zeit ein.
Ich lege meinen Kopf in den Nacken. Das Untier legt sich auf den Rücken. Des Untiers Beine sind gelähmt. Des Untiers Antennen sind gelähmt. Des Untiers Panzer ist steif.
Ich atme tief und gleichmäßig.