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Hutgesicht (2022)

Die Gestalt wandert im Garten, der mir nicht gehört. Es ist heiß. Sie trägt helle Hosen und schwere Glieder. Meine Pupillen verstecken sich in den Winkeln meiner Augen. Früher habe ich gewunken. Heute sind meine Arme steif. 

 

Ich habe in einem Geschäft einen Hut probiert. Sie haben ein Hutgesicht, hat die Verkäuferin zu mir gesagt. Sie hat gelächelt. Dann habe ich in einem anderen Geschäft einen anderen Hut probiert. Niemand hat dort etwas gesagt. Ich habe ihn gekauft. Der Hut wirft Schatten auf mein Gesicht. Ich kann den Kopf drehen, wie ich möchte. Die runde Krempe des Hutes verrät meine Kopfrichtung nicht. 

 

Im Garten der Gestalt steht ein Baum. Seine Krone ist rund, sein Stamm schmal. Die Blüten sind gelblich in jedem Licht. Ich stelle mir vor, wie ich mich auf seine Wurzeln setze und warte, bis er mir gehört. 

 

Mein Haus ist hoch. Ich wohne im EG. Obwohl es mir nicht gehört, nenne ich es trotzdem mein Haus. Die Gestalt nennt mich auch mein Liebling. Von allen Fenstern meines Hauses kann ich in den Garten der Gestalt sehen. Dort sitzt sie und schaut. 

 

Ob mir langweilig ist, fragt eine Freundin. Ihre Frage ärgert mich. Ich muss über die Langeweile nachdenken. Jeder Gedanke daran ist falsch. 

 

Mein Telefon läutet. Es läutet, wie die meisten Telefone auf der ganzen Welt fünfzehn Sekunden bis es aufhört und eine Stimme, die mir nicht gehört, für mich spricht. Eine Stimme, die ich mit meinem Namen unterbreche, bis es piepst und mir jemand, der mich nicht kennt, Worte hinterlässt, die ich nicht hören will.

 

Früher habe ich Ribisel vom Strauch des Gartens gepflückt, der mir nicht gehört. Ich habe sie gewaschen und von allen Stängeln befreit. Dann habe ich sie in Öl mit Mehl und Ei versenkt und gebacken. Später habe ich den Kuchen der Gestalt gebracht, ohne davon zu kosten. Ich habe meine Zähne gezeigt, die Gestalt ihre Lücken. 

 

Heute ernte ich die roten Beeren auch. Ich wasche sie. Die Stängel lasse ich dran. Dann stelle ich sie der Gestalt in einer Schüssel vor die Tür. Mein Hut tief im Gesicht. Der Vorhang der fremden Nachbarin mit den großen Augen vom Haus gegenüber wackelt. 

 

Ich habe nie etwas besessen, das größer war als mein Schrank, in den ich gebückt hineinsteigen muss. Groß bin ich nicht. Ich schneide lange Kleider am unteren Ende ab. Wenn das Kleid Glück hat, schlage ich sein Ende um und nähe es auf. Dann hänge ich es in den Schrank und hoffe es passt uns beiden. 

 

Die Gedanken an das Geschenk der Gestalt machen mich ganz oft ganz schwer. Sie hängen meistens in der Luft zwischen meinem Haus und dem Garten. Kommt der Wind verfangen sie sich im Vorhang der fremden Nachbarin. Dann will ich es nicht. 

 

Die Gestalt pflanzt grüne Stachelpflanzen an einem seltenen Regentag. Sie atmet schwer. Ob sie weiß, dass Stachelpflanzen keinen Regen mögen und ich keine Stachelpflanzen, frage ich mich. Sie sieht mich durch das offene Fenster. Ich ziehe den Vorhang zu. 

 

Eine Weinbergschnecke zerplatzt unter meinem Fahrradreifen. Ich kann nicht aufhören an das Geräusch zu denken. 

 

Der Garten, der mir nicht gehört, hat helle und dunkle Orte. Die dunklen betrete ich nicht. Die hellen sind gut für Paradeiser und Ringelblumen und Stangenbohnen und Erdbeeren und einen Tisch mit Stuhl für mich in einem Kleid mit schiefem Ende, denke ich. 

 

Als die fremde Nachbarin hinter dem Vorhang vereist, besuche ich die Gestalt öfter. Wir sitzen im Garten und essen Vanillepudding mit Rum. Die Gestalt streicht mir über die Schulter, wie früher. Sie gibt mir Kaffee, wie früher und wir lachen oft. Ich vergesse mein Lachen in den großen Augen der fremden Nachbarin und in meinen. Später im Bett, denke ich aber, dass es mir nicht mehr gehört.

 

Ich warte den ganzen Tag. Warten und Atmen sind eins. Am Ende des Tages lege ich mich auf die Wolldecke meines Bettes, die Tag und Nacht teilt. Ich schlage sie erst zurück, wenn die Grillen im Garten ihre Flügel aneinanderreiben. 

 

Morgens schaue ich zu allererst aus dem Fenster. Wenn die Gestalt schon im Garten sitzt bin ich beruhigt und verärgert zugleich. Alles beim Alten denke ich. 

 

Ich esse zu wenig, sagt die Gestalt, deren Armgelenke in der Luft wehen. Sie ist dünner als ich. Das Gewicht ihrer Tritte zerstört trotzdem den Rasen und hinterlässt braune Löcher.

 

Eine Frau mit Hut, der so aussieht wie meiner, steht am Straßenrad. Körner sprühen aus ihrer Körpermitte. Um sie herum tanzen Tauben. Die Schatten unter unseren Hüten grüßen sich, als ich mit dem Fahrrad an ihr vorbeifahre. Tauben füttern ist nicht gerne gesehen, denke ich. Ihr Schatten glaubt mich zu kennen. Ich trete ins Pedal. 

 

Mit dem Fahrrad hole ich Samen. Blumenwiesen, Bienenwiesen, Dotterwiesen kaufe ich. Der Samen hält mindestens vierzehn Jahre, sagt der Gärtner und lacht auf meine Frage. Anstatt beruhigt zu sein, beginne ich zu rechnen. 

 

Gerne sortiere ich meine Kleider und bügle die neuen. Neue Kleider aus dem Paket haben Falten als wären sie gerade geboren. Die Sonne breitet sich im Zimmer aus.  Ich hole meinen Schmuck und sortiere auch diesen. Ich errechne seinen Wert, wobei ich versuche den persönlichen Wert in Zahlen umzuwandeln und mich reicher zu machen als ich bin.

 

Ich höre in meinem Haus einen Frauenschrei und mache kein Geräusch. Auf Zehenspitzen gehe ich auf die Toilette. Die Spülung drücke ich nicht. Der Schrei hallt bis die Rettung kommt, die ich nicht gerufen habe. Ich lese am nächsten Tag die Nachrichten aus dem Bezirk und entdecke nichts. 

 

Am Höhepunkt der Hitze gießt die Gestalt den Garten. Das Wasser macht ihn braun. Seine Blätter verbrennen und kräuseln sich vor Schmerz. Die Gestalt sagt sie ist blind und senil aufgewacht. Woher sie das weiß, frage ich mich und weine den Blättern hinterher. 

 

Ob ich nicht mehr komme, ruft die Gestalt zum Fenster herein. Ich stehe dort am Fensterbrett und sage nichts. Sie soll denken ich bin nicht zuhause. Sieht sie mich, ist sie nicht blind genug. 

 

Die fremde Nachbarin mit den großen Augen hat ein neugeborenes Kleid in einem Paket in der Hand, als sie klingelt. Wann das Warten ein Ende hat, stellt sie mir ihre Frage in den Raum. Ihr Neid heißt jetzt Schadenfreude. Danke, sage ich und schließe die Tür.  

 

Es ist Oktober. Die Gestalt spaziert auf brüchiger Erde. Ihre Haut ist dünn. Die Stachelpflanzen hinterlassen geheime Botschaften auf dem blinden Körper. Ich wasche ihr Haar, ihre Arme, ihren Busen, den grauen Fleck zwischen ihren Schenkeln. Ihre Umarmung klammert. Ihre Sehnen schneiden in meine Haut. Kommst du wieder, fragt sie mich. Bald bekommst du mein Geschenk, sagt sie. Ein Stück tote Erde, denke ich.

 

Ich befestige Haken mit einer geliehenen Leiter in meinen Zimmern, die hohe Decken haben. Die Haken ganz oben erreiche ich später nur mit einem langen Stab. Dort hänge ich die längsten Kleider auf und verhänge damit meine Fenster. Der Garten ist für einen Moment verschwunden und mit ihm die Gestalt. 

 

Der Winter kommt. Die Gestalt liegt steif und gefroren im Garten, als ich sie finde. Sie taut im Frühling wieder auf, denke ich und gehe zurück in mein Haus. Drinnen aber schiebe ich die Kleidersäume beiseite und schaue aus dem Fenster. Als die Sonne kommt, beginnt die Gestalt zu glänzen und mit dem Glanz kommen die Tränen. Ich greife zum Telefon. Beim Nummernwählen fällt mir niemand ein, den ich anrufen könnte. Ich weine still beim Fenster hinaus. Kommst du wieder, fragt die Gestalt. 

 

Der Boden ist zu hart für den Tod. Ich bedecke die Gestalt mit Blättern und warte. Als es wärmer wird, beginne ich zu graben. Ich trage mein schönstes Kleid. Werde ich gefragt, sage ich, es gibt Grund zu feiern. So hätte es die Gestalt gewollt. Als ich es der fremden Nachbarin mit den großen Augen erzähle, weiß ich, es ist falsch. Ich hole den Hut und grabe weiter. 

 

Ich fertige eine Skizze an. Die dunklen Orte des Gartens streiche ich. Ich frage im Dorf nach einem Menschen, der einen Baum fällen kann. Klaus meldet sich und hat im Frühling Zeit. 

 

Im Mai lässt Klaus die dunklen Ecken verschwinden. Ich lasse die hohen Decken, die Schreie und Fenster hinter mir und pflanze Paradeiser und Stangenbohnen und Erdbeeren. Ich stelle einen kleinen Tisch neben das Grab der Gestalt. Dort sitze ich oft in einem Kleid mit schiefem Ende. 

 

Hinter meinem alten Fenster wohnt jetzt jemand anders. Wenn es offen ist, sitzt eine junge Frau auf dem Fensterbrett. Sie beobachtet den Garten und alles was ich damit mache. Ob sie weiß, wie lange Samen hält, frage ich mich. 

 

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