W.BürgerIn (2020)
Und alle W.BürgerInnen bildeten eine Gruppe, die den runden, gepflasterten Platz, wie eine halb aufgegessene Sachertorte aussehen ließ, wenn man nicht genau hinschaute.
Denn sie waren gekleidet, schwarz wie Fondant. Wie die dunkelste Schokolade, die Oma lange, so lange, auf der Toilette verweilen ließ. Und das Schwarz, das war ihnen auf die Leiber geschrieben, denn es war, so wie sie selbst, alles und nichts.
Lesen konnten sie nicht, die W.BürgerInnen. Sie waren unlesbar. Das unbeschriebene Blatt der Diplomatie.
Und manchmal, ganz selten, legten sie einen Rotstift auf die Falten zwischen ihren Brauen. Die Falten markierten, was passte und was nicht. Und wenn etwas nicht passte, nicht so klang, wie es klingen sollte, dann bäumte es sich auf, das Tortenstück in Schwarz.
Man möchte meinen, dann würden Hände gehoben. Man möchte meinen, die Zwischen-brauenfalten würden einen anschreien, bis die Adern links und rechts auf den Hälsern der W.BürgerInnen wie Schuhbänder hervortraten. Doch das, was die W.BürgerInnen besonders auszeichnete, war mit Sicherheit nicht ihre Lautstärke und es waren mit Sicherheit nicht die Fäuste, die gehoben wurden, um die Frequenz der Schreie zu erhöhen.
Denn die W.BürgerInnen hatten eine feinere Wahrnehmung als der andere Teil des runden Platzes. Sie nahmen Stimmungen wahr, wie gesülzte Bouillon aus Rinderknochen, wie Austern ohne Ketchup, wie kaum gesalzene Butter. Sie sogen auf, was sie erreichte und entluden ihre Wut ins Nichts. Ein Nichts, das unendlich sein konnte.
Ein Nichts, das nicht weiß war, sondern schwarz, weil es Energie sparte. Weil es ihrem Selbst entsprach, das sich der Unendlichkeit bewusst war, die vor ihrem kostbaren Körper nicht Halt machen würde.
Doch wer die W.BürgerInnen verärgerte, doch wer die W.BürgerInnen entzürnte, der hatte nicht gleich mit Konsequenzen zu rechnen, der durfte sogar noch den Platz verlassen, pfeifend nach Hause spazieren, mit den Händen in der Tasche und durch die braunen dünnen Lederschuhe jeden Pflasterstein spüren. Der hatte noch ein Bier und einen weiteren Atemzug Zeit, bevor er die Wucht der W.BürgerInnen zu spüren bekam. Bevor sie sich wie ein fadendünner Bandwurm in sein Weiß hineinverteilte. Bevor sie ihn an einem Ort trafen, mit dem der bunte, sich nicht-ganz-in-seiner-Mitte-befindende Andere, nicht umzugehen wusste.
Er würde soweit nicht damit umzugehen wissen, dass er stehen bleiben würde, auf einer Stelle, die nicht gesund war, wenn man zu lange auf ihr stand. Sie konnte ihm ein Geschwür bereiten, vielleicht einen Tinnitus, mit Melodie oder einen Krampf, wenn er Glück hatte.
Der Andere, der mit Sicherheit keine W.BürgerIn war, der, der die kleinen Äpfel, wie die großen gern mochte, selbst wenn sich die Flecken der Flugzeuge, der Autobahnen, der Roller auf ihnen verteilte, der konnte einem Leid tun, weil er was verpasste. Er verpasste das Blattgrün in Bastkörben, den wichtigen Abstand zwischen Oberschenkeln, die von kinderhandgemachten Tontöpfe, die von müden Raupen gesponnen Seidenröcke und die Neuerfindung der Natur.
All das, interessierte den Anderen genauso wenig, wie alles andere, das sein Kindesauge damals nicht gesehen hatte. Der Andere, der mochte zwar Klachlsuppe, ebenso gern wie Knödel allerlei, aber bei Szegediner zog er die dickflüssige Grenze.
Der Andere las, was alle lasen, die so waren wie er. Das anders sein, war dem Anderen nicht so wichtig, wie den W.BürgerInnen. Wenn ihn jemand in einer Runde vorstellte, war er neben den W.BürgerInnen, nur der Andere und das kam ihm nicht vor wie ein Privileg. Es kam ihm vor, wie etwas, das übriggeblieben war und jetzt eben auch da war. Etwas gegen das man nichts tun konnte, weil man nicht durfte, könnte man aber, dann würde man. So fühlte sich der Andere sehr lange. Und dann, als das Gefühl irgendwann weg war, blieb es trotzdem.
Und zwischen dem W.BürgerInnen und dem Anderen, gab es nichts als eine hauchdünne Linie, die selbst der Optiker mit dem feinen Diamantglas aus Tirol nicht sehen konnte. Sie, die Linie, war so dünn, dass beide Teile der Torte Angst hatten, sie könnten darüber stolpern und sich in ihr verheddern, ohne zu wissen, ob sie sich daraus eines Tages wieder befreien würden. Des einen Weiß, des anderen Schwarz blieb für die Ewigkeit und die Ewigkeit hing, im Gegensatz zur Unendlichkeit, über beiden, wie ein drohendes Schwert, das so scharf war, dass der Schnitt kaum schmerzen würde, zu Beginn.